Ukraine im Krieg: Seelenwelten

Autor Simon Greuter gibt einen seltenen Einblick in die Seelenwelten von Ukrainer:innen. Greuter war bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine Mitglied einer internationalen zivilen Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Ihr Auftrag: zum Abbau von Spannungen und zur Förderung des Friedens in der Ukraine beizutragen. Vor einigen Wochen konnte der studierte Jurist und Absolvent des CAS-Studiengangs „Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess“ in der Ukraine Selbsthilfegruppen besuchen, an deren Aufbau er massgeblich beteiligt war. Sein Bericht – geschrieben aus der Ich-Perspektive – lässt zumindest ansatzweise erahnen, was Kriegstraumatisierungen anrichten und wie bedeutsam Selbsthilfegruppen sind. (wsb)

Von Simon Greuter

Vom 8. bis 20. Juni 2023 besuchte ich einige der von mir zwischen November 2018 und Januar 2023 ausgebildeten Moderatorinnen und Moderatoren der “Selbststärkenden Gemeinschaft” in der Ukraine. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort leitete ich in dieser Zeit sieben Selbsthilfegruppen mit insgesamt gut 100 Teilnehmenden in Kyiv, Dnipro, Odesa, Ternopil/Berezhany und Solyotkin an. Die Methode heisst im Original “Terapia Comunitaria Integrativa” und wurde Ende der Achtzigerjahre vom Psychiater, Anthropologen und Theologen Professor Adalberto Barreto in der Favela “Quatro Varas”, Fortaleza, im Nordosten Brasiliens entwickelt. Sie bietet den Teilnehmenden einen geschützten Raum, frei von Ratschlägen und Bewertungen über Belastendes zu sprechen und von den hilfreichen
Lebenserfahrungen der anderen Teilnehmenden zu lernen.

Obwohl jedes Mal die gleiche strukturierte Methodik angewandt wird, unterscheidet sich jedes Treffen sowohl in der Dynamik wie auch inhaltlich. Von mehreren Nennungen individueller Leiden wählen die Teilnehmenden jeweils das Thema aus, das in der Gruppe die grösste Resonanz hat. Durch die Erweiterung der Perspektive wird das individuelle Thema universalisiert. Im darauffolgenden Erfahrungsaustausch entsteht bei den Teilnehmenden in der Regel das Gefühl, mit ihrem Leiden nicht allein zu sein. Sie können zudem häufig neue Ideen und Strategien für die
Problembewältigung mitnehmen. Neben dem offiziellen ist auch der anschliessende inoffizielle Teil fester Bestandteil der Methodik.

„Im Zuge der Gruppentreffen stellte sich eine Veränderung der
Aufmerksamkeit ein weg von einer generellen Schuldzuweisung (an
Russland) hin zu dem Bereich, den die Teilnehmenden persönlich
beeinflussen können, was in ein Gefühl der Ermächtigung und der
gesteigerten Handlungsfähigkeit mündete.”

Simon Greuter

Die Gruppe in Kyiv (Kiew) beispielsweise sprach über die Tiere, die in der von der russischen Sprengung des Staudammes bei Nova Kakhovka verursachten Flut ums Leben gekommen waren. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass die Teilnehmerin, die dieses Thema vorgeschlagen hatte, Schuldgefühle mit sich trägt, da sie während ihrer Flucht aus Kyiv zu Beginn des Krieges im Februar 2022 ihren Hund zurücklassen musste und dieser bald darauf mangels medizinischer Versorgung starb. Die Teilnehmenden tauschten sich anschliessend aus über ihre ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit Schuldgefühlen und das, was ihnen in solchen Situationen geholfen hat. Somit stelle sich im Zuge der Gruppentreffen eine Veränderung der Aufmerksamkeit ein weg von einer generellen Schuldzuweisung (an Russland) hin zu dem Bereich, den die Teilnehmenden persönlich beeinflussen können, was in ein Gefühl der Ermächtigung und der gesteigerten Handlungsfähigkeit mündete.

An einem Treffen in Dnipro wurde die Frage besprochen, wie mit Menschen umgegangen werden soll, die Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine offen ideell unterstützen – sogenannte Kollaborationisten. Im Erfahrungsaustausch der anwesenden Frauen – es handelte sich um eine reine Frauengruppe – kam deren grosse mentale Stärke und Widerstandskraft deutlich zum Vorschein. Klar und gewaltfrei beziehen sie Stellung gegen jede Form der Bevormundung. Eine der Teilnehmerinnen schreibt nach wie vor Postkarten an ihre ehemalige Nachbarin, die in den vergangenen Monaten nach Russland umgezogen ist – aber auf ukrainisch. Eine weiteren Gruppe zum Thema Hass zeigte auf, dass der ehrliche Ausdruck der eigenen Gefühle mitunter hilfreich sein kann.

Aber nicht nur der äussere Feind ist Leidensursache, auch Themen wie der Umgang mit Lügen und Propaganda oder die Tatenlosigkeit lokaler Behörden kamen zur Sprache. Zwei Themen standen gar nicht im Zusammenhang mit dem Krieg, sondern waren allgemein menschlicher Natur: die Berufswahl und der Umgang mit
persönlichen Enttäuschungen. Dort war es für die Teilnehmenden, deren Thema gewählt worden war, vor allem wesentlich zu hören, dass es viele Handlungsmöglichkeiten gibt, und die Unterstützung der Gruppe zu spüren.

„Klar und gewaltfrei beziehen die Frauen Stellung gegen jede Form der Bevormundung. Eine der Teilnehmerinnen schreibt nach wie vor Postkarten an ihre ehemalige Nachbarin, die in den vergangenen Monaten nach Russland umgezogen ist – aber auf ukrainisch.”

Simon Greuter

Zum Teil im Rahmen laufender Projekte, zum Teil ehrenamtlich führen die ukrainischen Moderatorinnen und Moderatoren auch nach dem Besuch ihre Arbeit fort. Die Bevölkerung hat ein grosses Bedürfnis nach solchen kostenlosen Angeboten, da sie für viele die willkommene Möglichkeit bieten, über ihre Erlebnisse im Krieg zu sprechen, den Gruppen aber kein Etikett “des Psychologischen” anheften. Wer weitere Informationen möchte, kann gerne meine Webseite authentischeentwicklung.ch konsultieren.

3 Gedanken zu „Ukraine im Krieg: Seelenwelten“

  1. guten tag, Simon Greuter,

    mich beeindruckten die Beschreibungen der von Ihnen gegründeten Selbsthilfe-Gruppen sehr ! Gerne würde ich noch mehr da rüber erfahren…
    Wie könnte ich das tun ?
    Ganz herzlichen Dank für Ihr gr. Engagement,

    ursula meyer

    Antworten
    • Guten Tag Frau Meyer!

      Herzlichen Dank für Ihr Feedback. Mehr Informationen finden Sie auf authentischeentwicklung.ch, und wir können uns auch gerne telefonisch oder per Mail austauschen.

      Freundliche Grüsse,

      Simon Greuter

      Antworten
  2. Meine gegenwärtige Lektüre hat offensichtlich einen direkten Bezug zur vorgestellten heilsamen Gesprächskultur. Ich lese den dokumentarischen Rechenschaftsbericht des Sans-Papiers-Kollektivs Basel: Von der Kraft des Durchhaltens. Auch hier bei uns ist eindrücklich zu erkennen, dass und wie bedrohte Mitmenschen aus den gemeinsamen Gesprächen den Weg zur Selbstorganisation und zum Appell an die mit Vorurteilen behafteten Öffentlichkeit finden.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar