„Ich will in Bildern einfangen, wofür es keine treffenden Worte gibt“

Seit dem 19. Oktober ist der Film „Big Little Women“ in den Kinos der Deutschschweiz zu sehen. Die schweizerisch-ägyptische Regisseurin Nadia Fares erzählt von verschiedenen Schicksalen ägyptischer Frauen und spiegelt diese Geschichten auch am Schweizer Patriarchat. Der aufbruch hat Nadia Fares einige Fragen gestellt und spannende Antworten bekommen.

aufbruch: In Ihrem Film „Big Little Women“ lassen Sie Schicksale ägyptischer Frauen sichtbar werden und spiegeln ihre Geschichten am Schweizer Patriarchat. Was hat Sie zu Ihrem Film inspiriert?

Nadia Fares: Mich hat der Mut von Frauen inspiriert. Mut hat man nicht einfach – man entwickelt ihn aus einer Vorgeschichte heraus, weil man etwas erlebt hat, was man verändern möchte. Genau davon wollte ich in einer komplexen und differenzierten Geschichte erzählen. Big little women ist also ein Kaleidoskop von mutigen Frauen und ihren Schicksalen in einem patriarchalischen System, sowohl im Westen als auch im Osten, im Okzident wie im Orient. Zu diesem Panorama gehört die berühmte Freiheitskämpferin Nawal El Saadawi ebenso wie die junge Generation, die nach dem Arabischen Frühling weiter für ihre Rechte und Freiheiten einsteht und damit andere Frauen inspiriert. Ich wollte aufzeigen, dass das patriarchale System keine Nationalität oder Religion hat, sondern etwas Universelles ist, etwas, was auch mit meiner persönlichen Geschichte verwoben ist.

aufbruch: Ob als Ärztin, Mutter, Schriftstellerin oder Uber-Fahrerin, jung oder alt – die Frauen Ihres Filmes illustrieren ganz verschiedene Lebensrealitäten. Was sie verbindet, ist, dass sie sich in einem patriarchalisch geprägten System bewegen. Inwiefern war die grosse Spannweite an Einblicken in konkrete Lebensweisen wichtig für den Film, konnten auch Bezüge auf die Schweiz ihn bereichern ?

Nadia Fares: Ich denke diese Spannweite ist in zweierlei Hinsicht wichtig für den Film: Zum einen nimmt sie die Zuschauenden mit in ganz verschiedene persönliche, emotionale Geschichten und Erfahrungen. Ob auf dem Land oder in der Stadt, in unteren Schichten oder der Oberklasse, in der Schweiz oder Ägypten – Frauen haben ihr alltägliches Leben im Patriarchat konkret auszugestalten – kulturübergreifend.

Dabei zeigen sie einen jeweils ganz eigenen Umgang mit den gesellschaftlichen Konventionen, rebellieren auf unterschiedliche Weise in dem ihnen gegebenen Kontext. Eine grosse Spannweite illustriert mit ihren vielen verschiedenen Facetten also die Universalität des Themas. Sie ermöglicht es aber in den konkreten kleinen Geschichten auch, einen nuancierteren, differenzierteren Blick auf die Thematik zu gewinnen. Es gibt nicht DEN Kampf zur Befreiung von Frauen, nicht DAS Landfrauenverhalten, DIE junge Rebellin, DIE unterdrückende Religion – wo ich das erlebe, kann ich Stereotypen hinterfragen und den eigenen Blick weiten.

aufbruch: Lässt eine facettenreiche Buntheit also sensibler werden? Was bedeutet sie für Sie?

Nadia Fares: Ja, davon bin ich überzeugt. Ich selbst bin, war und werde von meiner eigenen Buntheit geprägt, da ich aus zwei sehr unterschiedlichen Kulturen stamme, der Schweiz und Ägypten. Ich denke, diese Buntheit ist ein treibender Motor in meinem Leben, andere Kulturen kennenlernen, unterwegs sein und neue Erfahrungen machen zu wollen. Buntheit, Vielfalt zu erkennen, sie sichtbar zu machen und verstehen zu wollen, das motiviert mich, als Filmemacherin immer wieder neue Geschichten zu erzählen und so in der filmischen Kommunikation Brücken zu bauen. Dabei hängt die Wahl der Themen und Geschichten von einer sensiblen Weltwahrnehmung und sicherlich auch von einer gewissen Lebenserfahrung ab, die es auch erlaubt, sich reflektiert aus der eigenen Komfortzone ​hinauszubewegen, um das in Bildern einzufangen, wofür es keine treffenden Worte gibt. Ein bunter Facettenreichtum ermöglicht mir, unterschiedlichen Menschen persönliche Anknüpfungspunkte zu bieten. Anknüpfen zu können, heisst Verbindung aufzubauen und aus einer Verbindung kann letztlich ein bereichernder Dialog entstehen.

„Freiheit wird nicht auf einem Silbertablett serviert. Man muss dafür kämpfen und sich die Freiheit nehmen, auch wenn man dafür Opfer bringen muss.“

Nawal El Saadawi

aufbruch: Mit Nawal El Saadawi kommt in „Big little women“ eine Pionierin des Feminismus zur Sprache, die bis zu ihrem letzten Atemzug unglaublich authentisch und entschieden für ihre Überzeugungen eingestanden ist. Welches Vermächtnis hat sie Ihrer Meinung nach den jüngeren Feminismusgenerationen hinterlassen?

Nadia Fares: Ich verbinde Nawal El Saadawi, die mich schon als junge Frau inspiriert hat, vor allem mit diesem Ausspruch: „Freiheit wird nicht auf einem Silbertablett serviert. Man muss dafür kämpfen und sich die Freiheit nehmen, auch wenn man dafür Opfer bringen muss.“ Freiheit ist nicht einfach ein dahingesagtes Wort, es ist mit Haltung und konkreter Handlung verbunden, damit für etwas einzutreten, mit allen Konsequenzen. Nawal El Saadawi ist für ihre Freiheit ins Gefängnis und Exil gegangen. Ich denke, sie hat nachfolgenden Generationen damit eindrücklich gezeigt, dass es nicht darum geht, zu warten, bis einem irgendwer Freiheit zuspricht, sondern selbst aktiv zu werden, den Platz einzunehmen, den man einnehmen möchte, Dinge zu hinterfragen statt sie einfach abzunicken.

aufbruch: Welche Fragen sind für die jüngeren Generationen noch immer offen? Und wie gehen sie damit um?

Nadia Fares: Die zentralste Fragestellung für die jüngere Generation Frauen ist sicherlich, wie sie mit den Erwartungen der Gesellschaft in Sachen Heirat und Familie umgeht. Traditionell wird den Frauen die Rolle der Ehefrau und Mutter zugewiesen, eine Rolle, von der sich die jüngere Generation eigentlich distanziert, zumindest in ihrer unhinterfragten Selbstverständlichkeit. Junge Frauen möchten selbst bestimmen, wo sie ihren Platz im Leben sehen, statt ihn zugewiesen zu bekommen. Dabei erleben sie aber immer wieder, wie viel Kraft, Mut und Energie es kostet, von klassischen Mustern abzuweichen, sie zu hinterfragen, eine neue Verhältnisbestimmung von Mann und Frau zu wagen und diese vor dem Hintergrund einer Jahrhunderte alten Prägung zu rechtfertigen und auszugestalten.

aufbruch: Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie aus der Begegnung mit all den unterschiedlichen Frauen mitgenommen haben?

Nadia Fares: Wenn es um Gleichberechtigung geht, dann sind Ausdauer, Hoffnung und Kreativität gefragt. Es gilt, voranzuschreiten, nie aufzugeben, wach im Sinne von sensibel und beweglich zu bleiben. Wer seinem Gegenüber zuhört und versucht, sich in seine oder ihre Lage zu versetzen, der ermöglicht einen echten Austausch im Dialog. Und ich denke, solch ein Dialog schafft Raum für Verständnis, egal, ob zwischen Ost und West oder Mann und Frau. Genau diesen Raum kann man dann aktiv ausgestalten und verändern.

aufbruch: „Frauen geben nicht auf, sie gehen vorwärts, mutig und hartnäckig. […] Du hast mich immer ermutigt, meinen eigenen Weg zu gehen, es zu wagen, gegen den Strom zu schwimmen“, heisst es im Film. Wovon träumen Sie, wenn es um künftige Entwicklungen in Ägypten und der Schweiz geht?

Nadia Fares : Wenn ich träumen darf, dann davon, dass sich die Mentalität in den Köpfen der Menschen weg von Dominanzbildern hin zu einer natürlichen Gleichberechtigung aller als Selbstverständlichkeit entwickelt, zu einer gelebten Normalität.

„Ein bunter Facettenreichtum ermöglicht mir, unterschiedlichen Menschen persönliche Anknüpfungspunkte zu bieten.“

Nadia Fares

aufbruch: Mit „Big little women“ ist es Ihnen gelungen, auf kunstvoll-poetische Weise feministische Kämpfe dreier Generationen mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu verweben. Sie haben politisch, soziale Themen auf ästhetisch ansprechende Weise nachhaltig greifbar werden lassen. Vermögen eindrückliche Bilder manchmal mehr zu transportieren als Worte? Oder anders: Was reizt Sie am Filmemachen?

Nadia Fares: Für mich ja, auf jeden Fall. Bilder sind meine besten Verbündeten beim Filmemachen, denn die hier eingefangenen Handlungen, Personen, Eindrücke sind lauter als Worte. Ein Bild birgt eine unmittelbare Sinnlichkeit, die sich nicht zurechtbiegen lässt. Bilder sind, was sie sind, und halten die betrachtenden Personen zu einer Reaktion an. Für mich ist es im Prozess des Filmemachens wichtig, den Zuschauenden authentische, wahrhaftige Bilder zu bieten. Bilder, die etwas in ihnen auslösen. Das bedarf einiger Vorarbeit, etwa beim reflektierten Schreiben der Geschichte, das in Klausur stattfindet, oder im Aufbau eines vertrauensvollen Verhältnisses mit den Protagonisten meiner Filme. Gelingt es aber, dann kann ich über meine Bilder ehrliche Emotionalität transportieren. Sie sagen also alles, auch wenn sie stumm bleiben. Und diese Wahrheit bedeutet mir alles.

aufbruch: Welches spannende nächste Projekt steht nun, nach ihrem ersten grossen Dokumentarfilm, bei Ihnen an?

Nadia Fares: Im Moment schneide ich einen spannenden Dokumentarfilm über Schweizer Polizistinnen, die ich ein Jahr lang filmisch begleitet habe. Nächstes Jahr werde ich dann wieder an verschiedenen fiktionalen Projekten arbeiten, etwa an einer Serie über die junge Kleopatra auf ihrem Weg hin zum Thron.

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