»Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“

Auch im hohen Alter erhebt der Genfer Soziologe seine Stimme gegen die Ungerechtigkeiten auf der Welt. In den letzten zehn Jahren schrieb er fünf Bücher. Pünktlich zu seinem 90. Geburtstag am 19. April erscheint »Wie kommt der Hunger in die Welt?« als Neuauflage. Zwei Jahrzehnte nach der Ersterscheinung hat die Thematik nichts an Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil: Der Klimawandel verschärft die Lage, besonders im Globalen Süden.

Wolf Südbeck-Baur führte 2015 mit Jean Ziegler das Interview für den aufbruch, anlässlich der Buchveröffentlichung von »Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen«. Es erscheint hier in leicht gekürzter Form.

aufbruch: Jean Ziegler, Ihr Buch »Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen« liest sich als flammendes Plädoyer im Ringen um mehr Gerechtigkeit in dieser Welt. Haben Sie ein schlechtes Gewissen, gegen das Sie anschreiben müssen?

Jean Ziegler: Ein schlechtes Gewissen habe ich sowieso. Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind und den trägst du in dir. Als Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung (2000–2008) war es mir wichtig, mit Erfahrungsberichten wie etwa dem Buch »Wir lassen sie verhungern«, skandalöse Nahrungsmittelspekulationen multinationaler Konzerne offenzulegen. Mein Buch will Rechenschaft ablegen darüber, wo die Wurzeln meines Denkens und Handelns liegen.

aufbruch: Warum bezeichnen Sie die Weltordnung als eine kannibalische Weltordnung?

Jean Ziegler: Zwei Zahlen: Die 500 grössten Unternehmen der Welt kontrollierten 2014 laut Weltbank-Statistik 52.8 Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes. Diese transnationalen Konzerne entfliehen jeglicher sozialen, gewerkschaftlichen oder nationalstaatlichen Kontrolle und funktionieren allein nach dem Prinzip der Profitmaximierung, wobei sie durch ihre Forschungen auch einiges zum Fortschritt beitragen. Sie haben eine Macht, wie sie noch nie ein Kaiser, ein König, ein Papst auf dieser Erde hatte. Die kannibalische Weltordnung beruht auf einem System struktureller Gewalt. Zugleich stirbt im Süden der Welt alle fünf Sekunden ein Kind an den Folgen des Hungers. Und laut dem Welternährungsbericht sind 783 Millionen von den 7,3 Mrd. Erdenbewohnern unterernährt (2023 waren laut Welternährungsbericht rund 10% der Weltbevölkerung unterernährt, wobei die COVID-Pandemie erheblich zur Verschärfung der Ernährungssicherheit beigetragen hat. Anm. der Red.) und verkrüppelt, dies, obwohl die Erde 12 Mrd. Menschen ernähren könnte. Zugleich ist heute der materielle Mangel an Gütern überwunden. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. So sehen die Strukturen der Weltdiktatur aus. Punkt.

aufbruch: Was sind die Ketten in unseren Köpfen, von denen Sie in »Ändere die Welt!« sprechen?

Jean Ziegler: Warum funktioniert die kannibalische Weltordnung in einer demokratisch globalisierten Gesellschaft, wo jeder weiss, dass die Hungerflüchtlinge zu Tausenden im Meer versinken? Warum reproduzieren wir Tag für Tag in unseren Köpfen die neoliberale Wahnidee, die sagt, das wirtschaftspolitische Geschehen habe nichts mehr mit Menschen zu tun, sondern gehorche Naturgesetzen, sprich den »Marktkräften«? Diese neoliberale Ideologie ist von vielen internalisiert worden. Deshalb sind wir uns selbst fremd geworden, wir haben unser Bewusstsein entäussert, wie Theodor Adorno, Philosoph der Frankfurter Schule, sagt. Ausdruck dieser Entfremdung ist der häufig zu hörende Satz: Ich kann doch nichts tun gegen die Übermacht des Marktes. Das sind die Ketten im Kopf.

aufbruch: Und den Christen halten Sie das Nietzsche-Diktum entgegen, in dem er festhält: »Wenn die Christen an Gott glauben würden, hätte man das gemerkt…«

Jean Ziegler: …wenn die Christen das Matthäus-Evangelium nachlesen würden – »ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben… Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«. Entscheidend ist: Habt ihr es getan oder nicht? Für mich ist aber klar, dass die Geschichte einen Sinn und ein Ziel hat, und das ist die Menschwerdung des Menschen. Und Gott hat keine anderen Hände als die unseren.

aufbruch: Worauf gründen Sie die Hoffnung, dass die Menschheit unterwegs ist in Richtung Menschwerdung des Menschen?

Jean Ziegler: Obwohl die Kluft zwischen Arm und Reich – laut Oxfam besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung so viel wie die restlichen 99 Prozent – immer grösser wird, ist das Bewusstsein kumulativ. Das heisst, das Bewusstsein macht von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation Fortschritte. So hat der Kirchenvater Ambrosius, der im vierten Jahrhundert Bischof von Mailand war, die Sklaverei noch als gottgewollte Ordnung verteidigt. Zwar gibt es heute immer noch Formen der Sklaverei mit Kindern in den Minen von Glencore etc., aber kein Mensch, vor allem kein Bischof würde heute wagen, die Sklaverei als Institution zu verteidigen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie das Bewusstsein im Laufe der Geschichte menschenverachtende Haltungen überwindet.

aufbruch: Steht hinter Ihrem Widerstand gegen die Ungerechtigkeit in der Welt also letztlich die Überzeugung, dass die Welt mit fortschreitender Geschichte besser, gerechter wird?

Jean Ziegler: Ja. Darum glaube ich an die Auferstehung. Das Bewusstsein wird mit dem Tod zwar physisch, aber nicht geschichtlich unterbrochen. Insofern ist der Tod nur eine künstliche Unterbrechung des fortschreitenden Entwicklungsprozesses des Bewusstseins. Und darum ist die Auferstehung eine absolute Notwendigkeit. Dies ist meine Glaubensüberzeugung und eine Sicherheit, die uns der Glaube und die Vernunft gibt.

aufbruch: Sie haben sich mal als Kommunist bezeichnet…

Jean Ziegler: …das bin ich noch immer, ein Kommunist, der an Gott glaubt.

aufbruch: Ist das kein Widerspruch angesichts der vielen Millionen Getöteten, die sinnlos im Krieg, an Hunger oder auf der Flucht gestorben sind?

Jean Ziegler: Was die Halunken in Moskau gemacht haben, hat nichts mit Kommunismus zu tun – so wenig wie die Borgia-Päpste, diese Schwerverbrecher, etwas mit dem Evangelium zu tun hatten, obwohl sie es dauernd im Munde führten. Die kommunistische Maxime, jeder nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen, ist das Organisationsprinzip der kommenden Gesellschaft. Diesen Horizont als Sozialformation können wir aufgrund des Stadiums unserer Entwicklung heute begreifen. Das meint Kommunismus.

aufbruch: Sie haben nie ein Blatt vor den Mund genommen und die Verantwortlichen für Ungerechtigkeiten dieser Welt beim Namen genannt. Das mussten Sie teuer bezahlen, Sie wurden wegen übler Nachrede verurteilt zu mehreren Millionen Schweizer Franken Schadenersatz. Sie sind insolvent, heisst es, und trotzdem lassen Sie sich nicht entmutigen…

Jean Ziegler: …alle neun Prozesse habe ich verloren. Das Haus, in dem wir wohnen, gehört meiner Frau. Als ich noch an der Universität Genf Professor für Soziologie war, hatte ich Lohnpfändung. Aber man stirbt nicht am Hunger. Die Nerven zermürbenden Angriffe damals waren für mich und meine Familie nicht angenehm. Ich hatte Polizeischutz, zweimal gab es Sabotagen an meinem Auto, in einem Fall hätten die Folgen tödlich sein können. Ich will diese Dinge nicht verniedlichen, aber der Kampf im Gerichtssaal macht die Dinge transparent. Safran, Kopp und alle diese Beutejäger mussten vor Gericht Rede und Antwort stehen. Einen Banker hatte ich Betrüger, einen anderen Geier genannt. Auch wenn die Prozesse damals verloren gingen, würde ich sie heute gewinnen. Der Schweizer Banken-Banditismus ist heute evident. Die gewaschenen Drogengelder, die Verurteilungen der UBS und der CS in den USA sprechen eine deutliche Sprache. Das ist vom Sachverhalt her faktisch alles bewiesen.

aufbruch: Wie geht es Ihnen mit der Vorstellung, es gibt Sie eines Tages nicht mehr?

Jean Ziegler: Ich werde erwartet, so hat es ein französischer Jesuit ausgedrückt. Ich glaube, so ist es. Die Zeichen der göttlichen Liebe sind in meinem Leben so unglaublich evident. Darum glaube ich, dass ich erwartet werde.

Interview und Bild: Wolf Südbeck-Baur, Redaktion: Amira Hafner-Al Jabaji

3 Gedanken zu „»Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.““

  1. Ja, was gibts da schon Weiteres zu sagen? Es ist so, wie im obenstehenden Artikel beschrieben. Eine Bemerkung: Im Zusammenhang mit der Errichtung eines Bundesasylzentrums im Kanton Schwyz gab es am 17. April in Oberarth eine Orientierungsversammlung. 1000 Menschen kamen, viele hasserfüllt und mit entsprechenden Voten. Und wann kommen 1000 Menschen zusammen, die gegen die Ungerechtigkeiten, welche Jean Zielger anprngert, auch, nicht hass- aber wuterfüllt demonstrieren?

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  2. Und Recht hat er, der Jean Ziegler. Interessant ist auch, was seine sehr offene Meinung zu unseren Kirchefürsten ist. Und was er sagt, was Christus von diesen – unseren -Religions-Machtbonzen halten würde. Das Thema wäre auch eine öffentliche Stellungnahme mit ihm Wert. Jean Ziegler ist so etwas wie das Urgründige – menschliche – aufmüpfige Gewissen -der reichen Schweiz.

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  3. Ja, ein Skandal, dass in Arth gemäss Presseberichten 1300 (!) Menschen gegen das geplante Asylzentrum sich „zusammengerottet“ haben, obwohl dieses bloss am Rande des Dorfes wäre. Und als die Pläne bekannt wurden, hat die SVP innerhalb von 24 Stunden rund 1000 (!) Unterschriften gesammelt. Und dies in der „katholischen“ Urschweiz ……

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