Antek ist 22, das Umfeld, in dem er sich bewegt, tief religiös und rechtsradikal. Als aktives Mitglied einer polnischen Bruderschaft betet er den lateinischen Rosenkranz und singt zu Maria, demonstriert mit Megaphon gegen Homosexualität bei der Gay Pride oder härtet sich bei Survival-Camps im Wald ab. Katholizismus und Nationalismus prägen seine Welt, eine Welt von mutig-starken Männern, „vorrevolutionärer“ Weiblichkeit und Sex, der nur in der Ehe vorkommt, auf Familie hin ausgerichtet. Sein Weltbild mit richtig und falsch scheint klar gezeichnet zu sein und doch beschäftigen ihn dieselben Themen wie andere Jugendliche auch: Identität und Zugehörigkeit, Hoffnungen und Pläne für die Zukunft und vor allen Dingen: die Liebe.
Von Anna K. Flamm
Als er sich in ein Mädchen verliebt, das ihm vor Augen führt, dass man ein moralischer Mensch sein und schöne Ideale haben kann, auch ohne an Gott zu glauben, beginnt er, das voreheliche Zölibat, die Institution der Ehe und zu guter Letzt auch die Existenz Gottes in Frage zu stellen. „Bis heute habe ich die Dinge ein wenig… automatisch getan, ohne viel nachzudenken“, lässt er ein Mitglied seiner Bruderschaft wissen. Seine existenzleitenden moralischen Prinzipien geraten ins Wanken und so begibt sich Antek, hin- und hergerissen zwischen dem engstirnigen Milieu seiner Familie und seiner Freunde und einer neuen, freien Welt, auf die Suche nach seinem eigenen Weg.
Fesselnder Debüt-Dokumentarfilm
Über vier Jahre hinweg hat die polnische Filmemacherin Hanka Nobis für ihren ersten Dokumentarfilm den sensibel-charismatischen jungen Mann auf seinem Weg begleitet, eingefangen, wie sich seine dogmatische Mentalität, die auf althergebrachten Werten fusste, im Austausch mit sich verändernden Erfahrungen und Freundeskreisen wandelt, weitet. „Als ich Antek kennenlernte, wurde mir klar, dass er vernarbt war und dass er tief im Inneren ein ziemlich sensibler Charakter war. Er zog es vor, diese Seite seines Wesens zu verbergen, indem er sich von seinen Gefühlen abkapselte und die von seiner Familie aufgestellten Regeln in Bezug auf die Religion und vor allem auf die archetypische Vorstellung von Männlichkeit befolgte.“
In wohlproportionierten Filmkapiteln nimmt Nobis die Zuschauenden mit in den feinfühlig begleiteten Wandlungsprozess eines spannenden Charakters. Verletzlichkeit und Männlichkeit, unerschütterlicher Glaube und existentielle Fragen, Politik, Familie und Selbstreflexion bilden dabei wichtige Eckpfeiler einer komplexen Welt voll von Paradoxien, in der Antek immer wieder mit sich kämpft, um einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Was bedeutet es, ein guter Mensch zu sein?
Offene Fragen, die es zu debattieren gilt
„Polish Prayers“ wirft Fragen auf. Denn der Film zeigt ungeschminkt Widersprüche auf, die in radikal gegensätzlichen Ideologien beantwortet werden und doch in der Gesellschaft koexistieren müssen. „Meine Absicht war es, einen Film zu machen, der die vielen Facetten des Rechtsradikalismus zeigt, und zwar mit offenem Herzen“, so Hanka Nobis. „Der erste Schritt zur Veränderung ist Verständnis.“
Mit Anteks persönlichem Weg von einem Ende des politischen Spektrums zum anderen ist es ihr gelungen, eine allmähliche Öffnung zum Leben hin einzufangen, ein authentisches Suchen und Erfahrungen-Sammeln, das tiefgründig und fesselnd daherkommt, ohne zu verurteilen. Sein offener Blick und seine zugewandte, stigmatisierungsfreie Haltung machen „Polish Prayers“ zu einem starken Film. Zu einem Film, der zeigt, dass schnelle, ideologische Antworten langwierige persönliche Suchprozesse nicht ersetzen können, die Auseinandersetzung mit (eigenen) Widersprüchen Mut erfordert und Offenheit Türen öffnen kann, zu Gesprächen, Verständnis, Veränderung.
Der eindrückliche Dokumentarfilm „Polish Prayers“ ist ab dem 9. November in den Kinos der Deutschschweiz zu sehen, unter anderem im:
Kellerkino in Bern
RiffRaff in Zürich
Kultkino in Basel
Kinok in St. Gallen
Bourbaki in Luzern
Cameo in Winterthur
Youcinema in Olten